Anne Sträter
Der Bildhauer Harald R. Brörken
oder die beste der Welten
„Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffrenschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunktionen des Zufalls erblickt“. NOVALIS: Die Lehrlinge zu Sais (Friedrich Freiherr v. Hardenberg 1772-1801)
Im Jahre 1750 reiste der berühmteste Philosoph seiner Zeit, der Franzose Voltaire mit dem Preußenkönig Friedrich der Große von Berlin durch Westfalen nach Wesel und Kleve. Unterwegs – so erzählt der Schriftleiter des Heimatkalenders Dr. Hermann Schmoeckel in der Ausgabe für das Jahr 1932 – sei es zwischen Lippstadt und Hamm zu einem Streit zwischen Voltaire und einem Königlichen Adjudanten gekommen. Letzterer habe sich für das ausfallende Benehmen des Franzosen gerächt, indem er vorausritt zu der wichtigen Poststation der Strecke Berlin- Wesel – Kleve in Hultrop. Angekommen in der damals großen Posthalterei an der Lippe bat er die Bauern, sich mit Dreschflegeln und Mistforken zu bewaffnen, denn der Leibaffe Friedrichs reise in einer Kutsche durch das Land und dürfe diese unter keinen Umständen verlassen. Angeblich sei der arglose Voltaire beim Aussteigen an Ort und Stelle von den in der Hultroper Posthalterei versammelten Bauern derbe verprügelt worden. Von der Laune der Natur nicht gerade mit äußeren Vorzügen bedacht, nahm der brillante Denker auf seine Weise Rache: Neun Jahre später, also 1759, erschien anonym der philosophische Roman Candide ou l´optimisme, vom Verfasser selbst als trivialer Scherz abgetan. Die deutsche Ausgabe in der zweiten Auflage von 1792 erschien mit dem Titel: Offenherz oder die beste Welt.
In Voltaires berühmtem Bildungsroman wird im ersten Kapitel der von Natur aus sehr sanftmütige Jüngling, dessen Antlitz ein Spiegel seiner Seele war, aus dem schönsten und angenehmsten aller Schlösser vertrieben. Das westfälische Paradies gehörte dem fiktiven Baron von Thunder-ten-tronck, dessen Frau Baronin ebenfalls erfundene 350 Pfund wog, weswegen sie großes Ansehen genoß. Nach vielen Abenteuern, in deren Verlauf Candide Utopien als gefährliche Heilslehren entlarvt und jedes Paradies auf Erden als Illusion enttarnt, begreift er das Zupacken zwar nicht als letzten Sinn des Lebens, aber als Möglichkeit, Mut zur Arbeit zu haben: „Ich weiß auch… daß wir unseren Garten bebauen müssen… das ist das einzige Mittel, das Dasein erträglich zu gestalten!“
Nicht weit von Hultrop, dem Ort der schändlichen Begebenheit, die sich in verschiedenen Anekdoten niederschlug, hatte gut hundert Jahre zuvor der Baumeister Dietrich Gerlinckhaus hinter Berwicke für den Dompropst zu Münster und Paderborn Dietrich von Plettenberg ein prächtiges Herrenhaus errichtet. Mitten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges, im Jahre 1631, wuchs mitten in einer Felderlandschaft ein zweigeschossiger Backsteinbau heran, versehen mit einem mächtigen Walmdach, einem Treppenturm und einem auffallend schönen Portal in der Mitte der Hauptfront.
Das große, bauchige Milchkännchen eines Services der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur Berlin zeigt Haus Nehlen um 1850 als Herrenhaus des 17. Jahrhunderts. Die Herrenhausinsel gegen die Gräfte abgestützt, über den Wassergraben führt eine dreibogige Brücke. Vor dem Wirtschaftsgebäude bewegt sich ein Reiter mit Hund. Unternehmungslustige Enten schwimmen genau auf die Stelle zu, an der sich eines Tages ein ordentlich bestelltes, üppiges Kohlfeld befinden sollte. Man sieht es in einem Bilderhandbuch aus dem Jahre 1972, neben der längst eingestürzten und behelfsmäßig wieder hergerichteten Brücke über die Gräfte. In allen einschlägigen Nachschlagewerken wird der wirkungsvolle Bau von Haus Nehlen als imposantes Schlußlicht der Renaissance – Architektur gewürdigt, hervorgegangen aus der berühmten Bauschule Laurenz von Brachum (gestorben im Jahre 1586). Aus der sind in der näheren Umgebung Schloß Hovestadt, Schloß Overhagen und das alte Archigymnasium in Soest hervorgegangen.
Im umtriebigen Gewerbe des Fremdenverkehrs hat Haus Nehlen einstweilen noch keinerlei Bedeutung. In Westfalen, dem Land der Wasserburgen, träumen die Wasserschlösser an der Lippe vor sich hin. Ein Prinz – und der müßte schon ein Mann der Tat und Denkmalpfleger sein – ist für das wohlgestaltete und kräftig proportionierte Dornröschen nicht in Sicht. Es dämmert vor sich hin, stilrein und unberührt, vom Zeitgeist einstweilen nicht erfaßt. Es ist teil weise bewohnt und wird gepflegt.
Die Möglichkeit, prächtigen Kohl vor Haus Nehlen anzupflanzen hat den Bildhauer Harald R. Brörken wenig gelockt, sich dort niederzulassen. Im Jahr 1961 in Soest geboren, war es ihm nach den Lehr- und Wanderjahren dort zu eng geworden. Er suchte Platz zum Arbeiten und Raum für seine Ideen. So zog er im Jahre 1987 in das sogenannte Melkerhäuschen von Haus Nehlen, richtete es entsprechend seinen Bedürfnissen ein und legte anstelle eines Kohlfeldes einen blühenden Garten an.
In einem der Wirtschaftsgebäude etablierte er seine Werkstatt, und ein Jahr später stand nicht weit davon entfernt am Feldrand sein „Tempel des Morgens und des Abends“.
Der Tempel ist eine japanisch anmutende Konstruktion mit einer Sitzgelegenheit. Er bietet Platz für Meditationen im Sonnenauf- oder -untergang und gibt Raum für die gelassenen Momente, in denen man die Welt sich selbst überläßt und ihr Treiben betrachtet.
Im Rathaus von Welver, ein eher nüchterner kommunaler Zweckbau, stand eines schönen Tages (1989) der „Thron für einen Mikado“. Zu den Klängen aus „Carmina Burana“ von Carl Orff – lange bevor diese von der Werbeindustrie entdeckt und korrumpiert wurden – war in einem Videoflm ein „Kahn für die Nacht mit Feuer “ zu sehen, ein unerhört poetisches Ereignis in einer sonst für das Tagesgeschäft hergerichteten Umgebung. Spätestens hier und jetzt war dem heimischen Kenner der Kunstszene klar, daß inmitten einer nicht ungefährdeten Idylle hinter Berwicke ein Künstler lebt und arbeitet, der handwerklich perfekt, mit makelloser Ästhetik die schönsten Objekte schafft, die es weit und breit zu sehen gibt. Wenn es sich nicht anders ergibt, stehen sie zerlegt in Einzelteile in seiner Werkstatt, einige liegen bis heute nur als Modellform vor. In Soest steht am Isenacker unweit des Stadtarchives Haus „Zum Spiegel“ sein Obelisk, aus grünem Stein mit der Inschrift „URBS IN RURE“. Im Jahre 1991 hat Harald R. Brörken damit weniger Soest, der Stadt im Ländlichen, zu einem Denkmal verholfen, als seine Fähigkeit bewiesen, räumliche Situationen in einer Landschaft oder auf einem Platz mit seiner Architektur zu bedenken. Die Lippe zum Beispiel, den Fluß seiner Kindheit, hat er mit einem Floß befahren, das der Erfahrung der Oberflächte dient, dem Dahingleiten auf dem Wasser, hingegeben dem Strömungsverlauf. Die Einladung des Künstlers zu einer „Reise nach dem Lande Punt“ ist daher naturgemäß keine Reise in die Vergangenheit, eher die Möglichkeit, formschöne Anteile in Gestalt eines Siebdrucks zu erwerben. Darauf ist eine Schiffskonstruktion abgebildet, die an das Fahrzeug erinnert, mit dem Ägyptens Königin Hatschepsut den Nil befuhr. Zehn Meter lang soll das Boot werden, mit dem man auf dem Wasser treibt, um mit den Augen dem Verlauf der Landschaft zu folgen.
Im Sinne des Dichters Novalis ist Harald R. Brörken ein Künstler, der im Melkerhäuschen von Haus Nehlen lebt wie die Romanfigur Heinrich von Ofterdingen:
Der ist der Herr der Erde,
Wer ihre Tiefen mißt,
Und jeglicher Beschwerde
in ihrem Schoß vergißt…
So einer braucht keine Ideologie zu vertreten, keinen Glauben zu verkünden, keine Weltanschauung zu preisen, keine Politik zu betreiben, keine Karriere zu machen, keine Philosophie zu lehren, keine Theorie zu verfechten, keinen Gehorsam zu leisten, keine Umwelt zu schützen, kein Feld zu bestellen, keine Landwirtschaft zu kultivieren.
Harald R. Brörken braucht nur seiner inneren Stimme zu folgen und Arbeit und Leben zu einem Gesamtkunstwerk zu gestalten. Die Realisierung seiner künstlerischen Objekte ist für den Bildhauer denn auch folgerichtig keine Existenzfrage, für ihn sind sie real, sobald er sich eine Arbeit im Kopf ausgedacht und zurechtgelegt hat.
Im Jahr 1991 entstand das Projekt „Tempel zum Japanischen Baum – Utopie vom Umgang mit einer Landschaft“. Geographisch ist damit die Hachenei bei Nateln gemeint. Im wechselnden Licht der Jahreszeiten hat sich der Künstler Weg und Steg als täglicher Spaziergänger angeeignet. Eine schräg über die Wasserfläche der Ahse geneigte Schwarzerle erinnert ihn an einen Baum in einem japanischen Garten. Für diese Situation hinter dem Haus Nehlen hat er im Maßstab 1:10 einen Tempel gebaut, ein Floß entworfen und eine Brücke konstruiert, die – wären sie denn lebensgroß an Ort und Stelle placiert – dem Menschen, der die Gegend durchstreift, zu einer neuen Wahrnehmung verhelfen würden, zu einer ungewohnten Möglichkeit, sich in der umgebenden Natur anders zu erfahren.
In einem Fest im Foyer des Kreishauses am 29. September 1991 wurde das künstlerische Vorhaben „Tempel zum Japanischen Baum“ ebenso behutsam wie spektakulär der Öffentlichkeit vorgestellt. Immer wieder spuken in den Köpfen der Vertreter von Rat und Verwaltung in den Gemeinden Welver und Lippetal Überlegungen, das eine oder andere Projekt des Künstlers Harald R. Brörken zu erwerben und zu realisieren. Wie so manch anderes Politikum scheitert das Vorhaben banal an der schnöden Schutzbehauptung mangelnder finanzieller Möglichkeiten, die als öffentliche Haushaltsmittel einstweilen nicht zur Verfügung gestellt werden sollen.
Im großen Saal von Haus Nehlen rieselt von den ebenmäßig proportionierten blaßblauen Wänden der Putz von den unverdorbenen Wänden. Der Künstler Harald R. Brörken verläßt den Herrensitz, dem er über Jahre hinweg seine Würde belassen und zu mehr Anmut verholfen hat. Es wird keinen „Landschaftsgarten Hacheney“ geben, in dem Natur und Kunst sich glücklich finden und ergänzen. Bleiben wird die Erinnerung an seine Aufforderung im Soester Bürgerzentrum „Alter Schlachthof“ im Mai 1991 an einem Kunsttag mit Objekten, Installationen und Aktionen. Auf einer leichten weißen Fahne wehte das Zitat im Wind: SITUM EST IN ME! Es liegt an mir, etwas anzupacken und das Richtige zu tun.
„— Wohlgesprochen, erwiderte Candide, allein es gilt, unseren Garten zu bebauen.“
Es ist nicht überliefert, ob Voltaire mehrere Male durch Westfalen reiste und dabei sorgsam die Gegend um Hultrop gemieden hat. Vielleicht hätte man ihn damals auf Haus Nehlen empfangen sollen, und die Erinnerung daran würde den verwunschenen Herrensitz heute zu einem Denkmal von europäischem Rang erheben.
aus: Heimatkalender des Kreises Soest 1994